Es gibt die Geschichte von einem zum Tode verurteilten, dem vor der Vollstreckung des Urteils noch ein letzter Wunsch gewährt wurde. Er wünschte sich, in seinem Leben noch einmal Chinesisch zu beherrschen – er wurde sehr alt.
Diese Geschichte macht deutlich, dass Chinesisch zu lernen ein langfristiger Prozess ist. Natürlich gilt dies nicht nur für Chinesisch sondern allgemein für alle Fremdsprachen.
Doch gerade die chinesische Sprache erfordert einen besonders hohen Zeitaufwand, wenn man die vielen Schriftzeichen und kleinen sprachlichen Feinheiten meistern will. Aus diesem Grund ist es für Lerner wichtig, sich mittelfristige Ziele zu setzen. Durch Lernziele wird ein langandauernder Lernprozess in Abschnitte unterteilt, anhand derer man sich orientieren und seinen Fortschritt festmachen kann.
Was genau ist damit gemeint? Angenommen zum Beispiel, Sie haben noch niemals ein einziges chinesisches Schriftzeichen gelernt, haben aber den Wunsch, eine chinesische Zeitung lesen zu können. Sie haben also ein Ziel vor Augen, das schwierig und zunächst vielleicht kaum möglich scheint.
Um dieses Ziel tatsächlich zu erreichen, und dabei mit einer gewissen Effektivität vorzugehen, sollte der Weg dorthin in sinnvolle kleinere Schritte eingeteilt werden. Sie können sich etwa folgende mittelfristigen Lernziele stecken:
Hier ist ein Beispiel…
- Die chinesische Aussprache, einfache Strukturen der chinesischen Grammatik, sowie das Prinzip der Schriftzeichenbildung lernen
- Einfache Redewendungen beherrschen, komplexere Satzstrukturen bilden können, einen Wortschatz mit etwa 200 Vokabeln aufbauen
- Selbstständig einfache Sätze bilden können, seinen Wortschatz auf etwa 500 Vokabeln und Schriftzeichen erweitern
- Die chinesische Grammatik im Wesentlichen kennen, selbstständig komplexere Sätze bilden können, seinen Wortschatz auf etwa 900 Vokabeln und Schriftzeichen erweitern
- Kompliziertere Satzstrukturen beherrschen, einfache Konversationen über verschiedene Themen führen können, seinen Wortschatz auf etwa 1200 Vokabeln und Schriftzeichen erweitern
- Vorhandene Kenntnisse der Grammatik vertiefen, bereits erlernte Schriftzeichen sicher beherrschen, eigene Kurztexte schreiben können, seinen Wortschatz auf etwa 1500 Vokabeln und Schriftzeichen erweitern
- Die häufigsten chinesischen Redewendungen und Sprichwörter kennen, die meistgebrauchten Schriftzeichen sicher beherrschen, einfache Lesetexte verstehen können, seinen Wortschatz auf etwa 2000 Vokabeln und Schriftzeichen erweitern
- Bereits erlernte Kenntnisse trainieren und weiter vertiefen, seinen Wortschatz auf etwa 2500 Vokabeln und Schriftzeichen erweitern
- Bereits erlernte Kenntnisse trainieren und weiter vertiefen, kurze Artikel in einer chinesischen Zeitung verstehen können, seinen Wortschatz auf etwa 3000 Vokabeln und Schriftzeichen erweitern
- Einen möglichst großen Wortschatz trainieren und auf etwa 6000 Vokabeln bzw. 3000 Schriftzeichen erweitern. Den Inhalt auch von längeren Artikeln in einer chinesischen Zeitung verstehen können
Indem Sie Lernziele definieren, haben Sie also so etwas wie einen „Fahrplan“ geschaffen, an dem Sie sich orientieren können. Er zeigt Ihnen, wo Sie sich gerade befinden, und was Sie noch tun müssen, um Ihr langfristiges Ziel zu erreichen.
Bei den oben genannten Lernzielen handelt es sich lediglich um ein Beispiel zur Verdeutlichung. Für Ihren eigenen Lernprozess können Sie sich natürlich gerne daran orientieren. Jedoch sollten Sie sich auch unbedingt selber darüber Gedanken machen, welche Ziele für Sie individuell am sinnvollsten sind.
Wer an einem Gruppenkurs teilnimmt, hat dabei in der Regel bereits vorgegebene Lernziele und braucht sich zumindest für die Dauer des Kurses keine Gedanken darüber zu machen.
Doch lebenslanges Lernen wird in unserer Gesellschaft zu einem immer wichtigeren Faktor, so dass autodidaktische Vorgehensweisen, E-Learning und andere Lernformen einen noch größeren Stellenwert einnehmen werden. Daher sollte jeder in der Lage sein, seinen eigenen Lernprozess auch selber strukturieren zu können.
Sie brauchen auch nicht gleich, wie hier in diesem Beispiel, den gesamten Prozess von Anfang bis zum Ende im Detail festlegen. Gerade für Anfänger wäre das sehr schwierig, da sie ja noch keinen Überblick haben, welche Schritte eigentlich genau zu dem Lernprozess dazugehören.
Es reicht vollkommen aus, wenn Sie zunächst eine grobe Unterteilung vornehmen und nur die ersten Schritte genauer festlegen. Wenn Sie sich später mit der Materie besser auskennen, können Sie Ihre Lernziele immer noch konkretisieren.
Bei der Definierung seiner Lernziele sollte man beachten, dass man für die jeweiligen Abschnitte keinen zu langen zeitlichen Rahmen wählt. Überlegen Sie sich, was in 3 bis 6 Monaten realistisch ist! So können Sie das nächste Ziel bald erreichen und fühlen sich dadurch immer wieder motiviert.
Text: Philipp Zacharek
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